Rachmaninow, Skrjabin, Prokofjew: Mit ihrem „Berlin Recital“ beleuchtet die Pianistin alte Bekannte nun aus einem neuen Blickwinkel.
Auf die Gretchenfrage, ob man nun Live-Aufnahmen oder Studioproduktionen den Vorzug gibt, muss Yuja Wang nicht lange überlegen. „Auf jeden Fall live! Die meisten meiner CDs wurden im Konzert mitgeschnitten. Das gibt den Aufnahmen noch einmal die besondere Magie, die nur aus dem Moment heraus entstehen kann.“ So auch bei ihrer jüngsten Veröffentlichung, dem „Berlin Recital“, das zur Halbzeit einer großen Tournee durch die USA und Europa für die Nachwelt festgehalten wurde. Wobei die Wahl des Ortes keineswegs Zufall war. „Ich mag den Saal. Aber vor allem auch den Toningenieur der Berliner Philharmonie, den ich schon von einer Zusammenarbeit für die ‚Digital Concert Hall‘ kannte. Es war eine sehr anstrengende Tour, weil es durchwegs technisch anspruchsvolle Stücke sind, die einem viel abverlangen. Da hilft es enorm, wenn man einen Menschen in der Tonregie sitzen hat, bei dem man sich rundum relaxed fühlen kann, weil er dieselben Klangvorstellungen hat.“
Leicht gemacht hat es sich Wang tatsächlich nicht, mit diesem Programm, das inhaltlich an die frühen Aufnahmen bei ihrem Label anknüpft, nun jedoch das Spätwerk der Herren Rachmaninow, Skrjabin und Prokofjew in den Fokus rückt. „Die meisten Komponisten sind durch bestimmte einzelne Werke berühmt geworden. Bei Sergei Prokofjew denken wahrscheinlich viele zuerst nur an ‚Romeo und Julia‘. Aber gerade deshalb finde ich es spannend, jetzt auch diese anderen Facetten zu zeigen, die man zum Beispiel auch in der Sonate Nr. 8 findet.“ Viel wurde da von ihr im Vorfeld experimentiert, einstudiert und immer wieder umgestellt, bis sich die Dramaturgie des Abends richtig anfühlte. Bewusst zugänglich der Einstieg mit einem Rachmaninow-Block, dessen große Melodien für Yuja Wang „direkt zum Herzen sprechen“, ehe mit Alexander Skrjabin eine andere Klangsprache Einzug hält. Seine Sonate Nr. 10, die auch unter dem Beinamen „Insekten-Sonate“ bekannt wurde, übt auf die Pianistin eine ganz besondere Faszination aus. „Er wurde gegen Ende seines Lebens sehr spirituell, was man auch in seinen Kompositionen deutlich hören kann. Was er mit den Insekten sagen wollte, ist meiner Meinung nach, dass alles auf der Welt seine ganz eigene Schönheit besitzt. Es kommt immer nur auf die Perspektive an.“ Kennen und lieben gelernt hatte sie Skrjabins Musik vor allem durch ihren amerikanischen Lehrer Gary Graffman. „Er hat mich immer auswählen lassen, woran ich arbeiten möchte. Außer Skrjabin. Da meinte er immer. ‚Du musst volljährig sein, um diese Musik spielen zu dürfen.‘ Was den Reiz und meine Neugier natürlich nur noch gesteigert hat. Ich konnte es gar nicht abwarten, endlich 21 zu werden, um diese verbotene Musik zu spielen.“
Brücke zwischen Rachmaninow und Ligeti
Mittlerweile gehören seine Werke fest zum Repertoire von Yuja Wang, die seine „Insekten- Sonate“ auf ihrer letzten Tournee bewusst als Brücke nutzte, um die Hörer von Sergei Rachmaninow zu den Etüden György Ligetis zu führen. Mit der virtuosen „Fanfare“ war bereits auf der (für den Grammy Award nominierten) Debüt- CD Wangs eine Komposition des Ungarn zu hören gewesen, der nun drei weitere dieser technisch verzwickten Miniaturen folgen. Stücke, die höchste Konzentration erfordern. „Ich habe ewig gebraucht, um das einzustudieren, aber ich wollte es unbedingt lernen, weil mir diese Stücke sehr viel geben. Ligetis Musik ist auf der einen Seite sehr mathematisch und rational, löst aber dennoch etwas Emotionales in einem aus. ‚Vertigo‘ zum Beispiel ist wie eine optische Täuschung für die Ohren. Und mir gefiel die Idee, das Publikum mit diesen Eindrücken in die Pause zu entlassen.“
Ihre eigene musikalische Prägung in China war zunächst sehr durch die russische Klaviertradition beeinflusst, die sie durch ihre erste Lehrerin kennenlernte, die selbst in Moskau studiert hatte. Für Wang ein solides Fundament, auch wenn sie sich von der dort vermittelten Vorstellung, dass es für alles eine korrekte Herangehensweise und einen korrekten Klang zu geben hat, längst verabschiedet hat. „Was ich in dieser Zeit aber auch kennengelernt habe, waren die Aufnahmen, der großen alten Meister wie Michelangeli, Gilels, Schnabel und natürlich Vladimir Horowitz, der mich unglaublich beeindruckt hat.“ Wodurch der Wechsel zum Horowitz-Schüler Graffman eine durchaus logische Weiterentwicklung darstellte. Seine Ratschläge hat Wang ebenso verinnerlicht wie die Impulse der Meisterkurse beim aus der Schnabel-Schule hervorgegangenen Leon Fleisher. „Gary Graffman hat mir oft erzählt, wie er mit Horowitz Stücke durchgegangen ist, die er nie öffentlich gespielt hat. Einfach nur aus Neugier.“
Diese Lust auf Neues und Unbekanntes brennt ebenfalls in Yuja Wang. Wobei es bei den Zugaben von Nikolai Kapustin und Pjotr Tschaikowski, die beim „Berlin Recital“ nun als Bonus mit veröffentlicht werden, auch gerne mal etwas kulinarischer werden darf. „Ich habe oft beinahe das Gefühl, dass manche nur wegen der Zugaben in meine Konzerte kommen, weil viele davon ja ein sehr reges Eigenleben auf YouTube führen. Dabei ist das eigentlich nur das Dessert zu einem großen gehaltvollen Essen.“